Amor Fati – die Liebe zum Schicksal
Simon Gall kennt psychische Erkrankungen seit seiner Jugend. Um seine Krankheit zu besiegen, wanderte er 1.300 km nach Rom – hier findet ihr den Blogbeitrag, in dem er ausführlich von dieser Erfahrung berichtet. In seinem zweiten Artikel für Freunde fürs Leben erzählt er, wie diese Reise und seine Liebe für das Schicksal ihn dazu bewegt haben, sich selbst und anderen zu helfen, in dem er eine Selbsthilfegruppe in der ländlichen Umgebung des Ammersees gegründet hat.
Anfang
Es ist ein kalter, trüber Tag Anfang November, als ich am Ufer der Isar stehe und mit Jonathan telefoniere. Es geht mir nicht gut. Das Herz gebrochen – das Wort „Hoffnung“ seit kurzem wieder zu einem Phantasiegebilde geworden. Das Atmen fällt mir schwer. Gerade war ich doch noch glücklich?!
Jonathan erzählt von sich und sagt dann aus dem Nichts: „Ich kenne niemanden, der so offen und transparent mit seiner Situation umgeht, wie du – hast du dir nicht mal überlegt aktiv zu werden?“ Hatte ich nicht. Aber wieso eigentlich nicht?
Unabhängig davon ließ ich mir am nächsten Tag die Worte Amor Fati auf den Unterarm stechen. Die Liebe zum Schicksal. Mit allem was kommt. Nicht nur dem Guten, das ist leicht. Nein, es geht um alle Aspekte des eigenen Lebens. Auch die, die man nun wirklich nicht gebrauchen kann. Eine Trennung zum Beispiel. Nicht einmal 36 Stunden nach meinem Telefonat mit Jonathan waren die Grundpfeiler von meiner Initiative gelegt – ich wusste es nur noch nicht.
In der folgenden Woche habe ich nach Möglichkeiten gesucht mich einzubringen. Vereine, Organisationen, Selbsthilfegruppen. In meinem Landkreis war das Angebot bestenfalls spärlich. Eine der ersten E-Mails ging an Freunde fürs Leben e.V. Kontakte zu meiner Heimatgemeinde, zur Caritas Landsberg, zum Selbsthilfezentrum München und viele weitere entstanden.
Die Idee: das Tabu brechen und dem Stigma entgehen.
Es war mir ein Anliegen, dass die Thematik öffentlich besprochen wird und dadurch „vom Schatten ins Licht“ findet. Eine Selbsthilfegruppe zu moderieren oder gar ins Leben zu rufen war Ende Dezember 2021 noch undenkbar. Um den Jahreswechsel hatte ich dann die Möglichkeit, einen Artikel im Lokalblatt „Einhorn“ zu verfassen. Die Veröffentlichung ließ Dämme brechen.
Mitte
Das „Einhorn“ erscheint in einer Auflage von 2000 Einheiten. Kaum war die Zeitung erschienen wurde ich in unserer Familienmetzgerei Tag für Tag auf die Initiative angesprochen. An der Theke wurde auf einmal über mentale Gesundheit gesprochen. Es schien, als hätten viele nur darauf gewartet, endlich darüber sprechen zu dürfen.
Die ersten Interessenten meldeten sich an, andere stellten ihre Hilfe zur Verfügung. Ein überregionales Magazin bot an, Amor Fati auch auf ihrer Plattform vorzustellen. Die Auflage dieses Mal: 23.000.
Die freiberuflich arbeitende Journalistin präsentierte das Thema dem Landsberger Tagblatt und dem AmmerseeKurier. Depression auf der Titelseite. Jeden Tag erreichten mich neue Anmeldungen.
Während ich zu Beginn noch damit gerechnet habe, nicht mehr als 5-10 Personen erreichen zu können, hatten sich nach wenigen Wochen bereits mehr als 50 Personen für Amor Fati angemeldet.
Das erste Treffen fand im Rathaus statt. Die jüngste Teilnehmerin war 18, die Älteste 92. Und beide verband trotz ihres bemerkenswerten Altersunterschieds eine Sache. Sie beide wurden nicht ernst genommen. Das 18-jährige Mädchen musste sich sagen lassen, dass das nur eine Phase sei und dass das schon wieder vorbeigehe. Die 92-jährige Ärztin sah sich mit folgender Aussage konfrontiert: „Was stellst du dich denn so an, jetzt hast du es doch eh bald geschafft.“
Bereits bei unserem ersten Treffen ist die Offenheit und das verständnisvolle Miteinander ungebrochen. Wir fühlen uns wohl, weil man sich hier nicht hinter einer Fassade verstecken muss. Wir tauschen uns aus über unsere Erlebnisse, unsere Therapieerfahrungen, den Umgang mit Antidepressiva und die zwischenmenschliche Beziehung zu unseren Angehörigen.
Wir sind da – und wir sind nicht mehr allein.
Zu Beginn ein paar einleitende Worte. Bei uns gibt es kein „Sie“ – hier sind wir „Du“, denn hier haben alle einen gemeinsamen Nenner.
Ich habe diese Initiative vielleicht ins Leben gerufen, aber es steht mir nicht zu, dort zu stehen, um „vom Elfenbeinturm herunter“ zu „predigen“, wie man es vielleicht schaffen kann. Ich sehe mich selbst als Betroffener und profitiere von diesem Zusammensein genauso wie alle anderen auch. Ich bin aktuell stabil, aber die Vergangenheit hat schon mehr als einmal bewiesen, dass dieses Leben in Wellen verläuft. Jeder bekommt Zeit sich mitzuteilen; eine Sanduhr dient als Hilfsmittel, dass der Gesprächsfluss nicht ins Ungleichgewicht gerät. Taschentücher sind in der Runde genauso wichtig wie Schoki-Boxen auf den Tischen. In den Raucherpausen herrscht reges Treiben. Die wöchentlich stattfindende Veranstaltung endet regulär um 22 Uhr; doch bisher haben wir es noch nie vor 23 Uhr nach Hause geschafft.
Die Energie in diesen Runden ist ungebrochen. Das Miteinander empathisch und hilfsbereit.
Ende – Keins
Aus einer Krise ist etwas Großes entstanden. Vielleicht passiert doch alles aus einem Grund. Der Versuch, das Thema Depression & Co. öffentlich im bayrischen Dorf zu besprechen, führte zu einer Initiative, die zum Forum wurde. Bis zur Fertigstellung unseres designierten Treffpunkts suche ich wöchentlich nach einer Location. Eine Kooperation mit dem lokalen Internatsgymnasium, auf dem ich mein Abitur absolviert habe, wird diese Herausforderung vielleicht schon bald beheben.
Die empfohlene Gruppengröße einer Selbsthilfegruppe ist 8. Wir sind mehr.
Das Projekt Amor Fati bedeutet auch für mich Learning-by-doing. Auch für diese Situation wird sich eine Lösung finden lassen. Nur eins war mir klar: unter gar keinen Umständen möchte ich jemandem die Unterstützung verwehren, wegen der er sich an Amor Fati gewandt hat.
Inzwischen ist die Gruppe offiziell als eine Selbsthilfegruppe gelistet. Ein Musikpädagoge hat seine Unterstützung angeboten, Coaches haben ihre Dienste ehrenamtlich zur Verfügung gestellt, niedergelassene Therapeuten haben mich mit potenziellen Vakanzen kontaktiert und weitere Kooperationen entstehen Woche für Woche.
Auf kurz oder lang möchte ich mit Schulen in der Region zusammenarbeiten, um einen Diskurs anzuregen, der Schüler bereits im jungen Alter für Aspekte mentaler Gesundheit sensibilisiert und dabei unterstützt rechtzeitig einen „Werkzeugkasten“ an die Hand zu bekommen. Wir werden sehen.
Amor Fati ist die Liebe zum Schicksal – mit allem, was dazu gehört.
Amor Fati ist eine Initiative für mentale & psychische Gesundheit.
Es kann jeden treffen.
Lasst uns darüber reden. Vom Schatten ins Licht.