Ein Meer aus ungeweinten Tränen – wenn Trauer nicht verarbeitet wird
Die Verfasserin dieses Gastbeitrags ist die gebürtige Münchnerin und Autorin Irene Kasapis. Sie schreibt Geschichten über und aus ihrem Leben mit der Trauer, um die Sichtbarkeit zum Thema Trauer zu erhöhen und darauf aufmerksam zu machen, dass die Trauer ein lebenslanger Begleiter ist. In diesem, mit Metaphern gefüllten, Beitrag beschreibt sie, wie sie durch unterdrückte Trauer über den Tod ihrer Mutter eine Depression entwickelte und diese ihr Leben in ein offenes Meer verwandelte, in dem sie zu ertrinken drohte.
Ich drohte, an einem Meer von ungeweinten Tränen zu ertrinken. Von einer längst vergessen geglaubten Trauerwelle auf meine Couch gespült, war ich zu Treibgut geworden. Am Grund spielte sich mein Leben ab. Eigentlich sollte ich die nächste Veranstaltung organisieren und in London, Paris oder Amsterdam mit meinen Kolleg:innen die bevorstehenden Vertragsabschlüsse bei einem Essen feiern. Eigentlich sonnte ich mich mit meinem Partner, Mr. Right, an der Isar, aß Eis, lachte und erkundete München mit dem Fahrrad. Ich fühlte mich wie eine Verräterin an meinem Umfeld, an meinem Leben. Ich schluckte immer mehr Wasser und bekam keine Luft mehr.
Die Trauerwelle verwandelte sich über die Zeit, die ich auf meiner Couch saß, in ein Meer, das in meinem Schlafzimmer hin und her schwappte. Schlafen wurde unmöglich. Bekamen Seemänner nicht Skorbut, wenn sie zu lange kein Obst und Gemüse essen? Das Meer füllte nun auch meinen Magen, ich hörte auf zu essen. Der Gedanke an Flucht wurde mit einer Flaschenpost angespült. Wurden Verräter:innen nicht von Board gestoßen? Vom Ausguck, meinem Balkon im zweiten Stock, in das Leben blickend, was ohne mich weiterlief, dachte ich ans Türmen. Die Stimme eines mir bis dahin unbekannten Kapitän riss für mich das Ruder rum: “Wenn du springst, brichst du dir höchstens ein Bein. Lass mal lieber ins Bett gehen!” flüsterte er mir zu. Das Meer und meine Gedanken begannen mir Angst zu machen. Ich bat meinen Pferdetherapeuten um Hilfe.
Da mein Meer mich immer noch wahlweise an meine Couch oder mein Bett kettete, kam Herr Pröttel ausnahmsweise zu mir nach Hause. Wir saßen im Garten meiner Mutter, er in der Sonne im T-Shirt, ich im Schatten in meinem Neoprenanzug, der mich gegen das kalte Meer in meiner Wohnung schützte. Ich erzählte Herrn Pröttel alles über mein Meer, meinem Fluchtgedanken und dass ich nicht mal mehr essen könnte.
“Selbstbestrafung durch Essensentzug ist scheiße!” Sein Satz öffnete ein Ventil in mir, Wasser begann abzulaufen. Der Duft der Rosen meiner Mutter vermischte sich mit meinen Tränen. Haltsuchend klammerte ich mich an den dunkelbraunen Holz-Gartentisch, an dem meine früher noch intakte Familie und ich fröhliche Grillabende feierten. Ich begann auf meinen Tränen auszurutschen. Je mehr ich weinte, desto weniger wurde das Meer in mir. In dem zurückbleibenden Wasser fand ich verlorengegangene Erinnerungen. Meine Vergangenheit spiegelte sich in meiner Gegenwart.
Mr. Right watete in meinem Schlafzimmer durch einen tiefblauen See, in dem sich weiße Wolken spiegelten. Um in diesen See zu schauen, brauchte ich erneut Hilfe, das spürte ich instinktiv. Meine Liebe zu ihm war durch das Ventil abgeflossen, denn fühlen konnte ich sie nicht mehr und doch klammerte ich mich an ihn.
“Entweder du gehst in eine psychosomatische Klinik oder du nimmst Antidepressiva.” Liebevoll sah mir mein Mr. Right bei diesem Satz in die Augen. Mein Wasser zerstörte langsam unsere magnetische Anziehung. In dieser Nacht wachte ich von einem Geräusch auf. Füße, die auf grünes Linoleum klatschten. In dem See unter meinem Bett braute sich ein Sturm zusammen. Der Geruch von Angst und Desinfektionsmittel steigt mir in die Nase, ich muss fast kotzen. Suchend tastete ich nach der Hand des neben mir schlafenden Mr. Right’s. Sein Schlaf war ungestört. Meine schlimmste Erinnerung begann sich in dem See unter meinem Bett abzuspielen.
Grüne Arztkittel und weiße Schwestern Trachten, wehten an meinem 16-jährigen Ich vorbei. Die jüngeren Versionen meiner Brüder und ich sprinteten durch ein Krankenhaus. Ein Labyrinth an Gängen führt zur Onkologie. Ein Ruck, den ich nach mehr als 20 Jahren in meinem Bett immer noch spüren kann, zieht mein 16 jähriges Ich in ein Krankenhaus Zimmer. Das gelbe Gesicht meiner Mutter auf weißem Kissen. Ich entscheide: keine Klinik! Klinik ist gleich Tod in meiner Welt. Am nächsten Morgen hole ich den Putzlappen und wische den See auf.
Von meiner Hausärztin bekam ich Antidepressiva. Tropfen gegen die übrig gebliebenen Wasserpfützen. Schluck um Schluck holte ich mir mein Leben zurück. Ich begann zu kochen. Ich schrieb Einkaufszettel, ein dreißigminütiger Spaziergang zum Supermarkt war anfangs noch eine halbe Weltreise für mich. Nach ein paar Wochen ist meine Wohnung wieder trocken. Auf einem dieser Einkaufstrips begegnete mir eine Frauenzeitschrift. Im Reiseteil eine Rundreise durch Mauritius. Ich fällte eine weitere Entscheidung für mein Leben: “Wir fliegen nach Mauritius!” Die Zeit bis dahin verbrachte ich in Wenn-Danns. Wenn ich wieder zur Arbeit ginge, dann könnte ich auch nach Mauritius fliegen. Wenn ich weiter zum pferdegestützten Coaching ginge, dann könnte ich auch nach Mauritius fliegen. Die Reise sollte die Beziehung zwischen mir und Mr. Right retten. Doch nach drei Wochen Mauritius, platze der Traum und Mr. Right wurde zu Mr. Wrong. Die Trennung von ihm, schenkte mir aber eine wichtige Erkenntnis: Trauer ist eine natürliche Reaktion auf ein Ende. Ihr Raum zu geben, zog mich allerdings nicht wieder unter Wasser, wie ich anfangs fürchtete, sondern im Gegenteil. Ich empfand es als gesund zu trauern. Ich weinte diesmal sichtbare Tränen, zerschmetterte eine Tasse nach der anderen, schrieb Mr. Right flehentliche E-Mails zu mir zurück zu kommen. Doch mein Wasser hatte ihn für immer fortgespült.
Meine depressive Episode, die Trennung von Mr. Right waren der Anfang eines langen Prozesses, mich mit meiner Trauer anzufreunden. Über die Jahre näherte ich mich ihr mit Hilfe von weiteren Coaches, Therapeuten und Schwimmen mit Delfinen. Ich lernte, dass meine Trauer einen Ausdruck braucht. So fand mich das Schreiben. Die unterdrückte Trauer hatte mich krank gemacht. In meinem ersten Buch “Gespräche mit meiner Trauer“ zieht meine Trauer bei mir ein und wir reisen in auto-fiktionalen Geschichten in unsere Vergangenheit. Während dieser Reisen wird mein anfangs ungewollter Gast, zu einem Freund. Einem Freund fürs Leben.
Für weitere Texte rund um das Thema Trauer und Neuanfänge, findet ihr die Autorin auf Instagram unter @irene_kasapis.