Schon davon gehört? Marit über „Aftersun“
In unserer Reihe „Schon davon gehört?“ teilen wir Bücher, Musik, Filme oder Serien, die uns persönlich berühren und von denen wir glauben, dass mehr Menschen sie kennen sollten, weil sie psychische Erkrankungen und mentale struggles greifbarer und verständlicher machen.
Die 11-jährige Sophie (Frankie Cario) und ihr junger Vater Calum (Paul Mescal) verbringen wie jedes Jahr einen gemeinsamen Urlaub in einem Resort in der Türkei. Sophie lebt bei ihrer Mutter, von der Calum sich getrennt hat. Vater und Tochter spielen Billard und singen Karaoke, sie beobachten Paraglider, lernen tauchen und machen sich über die Ferien-Animation im Resort lustig. Jeder Augenblick scheint mit so viel Bedeutung aufgeladen, wie es nur die Linse einer Kindheitserinnerung schafft.
Doch Aftersun ist nicht nur ein zärtliches Portrait einer Vater-Tochter-Beziehung. Über den wunderschönen Bildern von türkischen Landschaften, Tagen am Pool und den vielen liebevollen, verspielten Momenten zwischen den beiden Hauptcharakteren liegt ein melancholischer Schleier. Während der Film voranschreitet, realisieren wir, dass all diese Szenen Erinnerungen sind, rekonstruiert mit Hilfe von Calums Camcorder-Aufnahmen: Die erwachsene Sophie, inzwischen selbst 31, sitzt zu Hause vor dem Fernseher und erinnert sich an diese letzten Tage, die sie mit ihrem Vater verbracht hat.
„Hast du nicht auch manchmal das Gefühl, dass du gerade einen ganz tollen Tag hinter dir hast, und dann kommst du nach Hause und fühlst dich müde und niedergeschlagen, und es fühlt sich an, als würden deine Knochen nicht funktionieren? Sie sind einfach müde und alles ist müde. Als ob man untergeht. Ich weiß es nicht. Es ist seltsam.“
– Sophie in Aftersun
Der Urlaub, den wir hier sehen, ist längst Vergangenheit. Was mit Calum passiert sein könnte, das deuten die stillen Momente und auch die Dialoge immer wieder so subtil an, dass es einem vor lauter unguter Vorahnung den Magen umdreht. Zum Beispiel, wenn Calum sich versehentlich in den Arm schneidet und den Schmerz einfach geschehen lässt. Oder, wenn er dem Tauchlehrer am Tag seines 31. Geburtstags erzählt, dass er nie erwartet hatte, es überhaupt bis 30 zu schaffen.
Das Spielfilmdebüt der Regisseurin und Drehbuchautorin Charlotte Wells erzählt auf eindringliche Art und Weise davon, wie ein junger Mann gegen seine Depressionen kämpft und dabei mit letzter Kraft versucht, ein guter Vater zu sein. Und von einer Tochter, die aus erwachsener Perspektive versucht, zu verstehen, wie es ihrem Vater ging – und vielleicht mehr Verständnis für dessen Schmerz aufbringen kann, als er es sich für sie gewünscht hätte.
Das große Thema des Films – wie sich psychische Erkrankungen über Generationen hinweg durch eine Familiengeschichte ziehen können – wird vor allem durch die beeindruckende Bildsprache des Films vermittelt. Immer wieder treffen sich die erwachsene Sophie und ihr junger Vater auf einer dunklen Tanzfläche, umringt von den zuckenden Bewegungen anderer Körper, ihre Gesichter nur ab und zu erleuchtet vom Stroboskoplicht.
Trotz seiner Schwere hat Aftersun viele warme und auch lustige Momente. Der Film umreißt psychische Erkrankungen auf eine sehr berührende Weise, in der sich sicherlich viele Menschen wiedererkennen und verstanden fühlen können.
Aftersun von Charlotte Wells | UK / USA 2022 | Mubi