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Phil-osophie am Freitag

Heute ist Freitag, das ist schonmal eine gute Sache!

Jedes Jahr um diese Zeit, man könnte fast die Uhr danach stellen, schwappt eine Welle neuer Ratgeber und Anleitungen auf den Markt, die Menschen dabei helfen sollen, „sich selbst zu finden“. Ich konnte mit diesem Begriff noch nie viel anfangen, schon gar nicht, seit „Selbstfindung“ quasi zum Trend verkommen ist.
Eine Freundin berichtete mir neulich, dass sie nun aufbreche, um mit dem Fahrrad durch Thailand zu fahren. Auf der Suche nach sich selbst. Scherzhaft könnte man nun sagen: „da musst Du aber ganz schön durcheinander gewesen sein, dass Du Dich irgendwann in Thailand verloren hast, ohne es zu merken“.
Ernsthaft betrachtet ist es allerdings tatsächlich so, dass es manchmal helfen kann, Abstand zu den Dingen, die das „echte Leben“ so beschwerlich machen, zu gewinnen, um sich selbst wieder „etwas näher zu kommen“. Das ist eine Formulierung, die ich durchaus unterstütze. Tatsächlich ist es ja so, dass wir häufig gar nicht merken, wie oft wir uns verbiegen um vermeintlich unabdingbare gesellschaftliche, moralische oder berufliche Anforderungen zu erfüllen. Und dabei treten einige unserer „Eigenheiten“ – liebenswürdige, verschrobene, oder putzige Eigenarten, die jeden von uns einzigartig machen – immer weiter in den Hintergrund. Man wird sozusagen „glattgeschliffen“. „Verlieren“ tut man sich allerdings normalerweise nicht. Denn schließlich merkt man ja, dass es sich nicht gut anfühlt, zumindest nicht optimal. Manchmal – und das ist dann besonders hinterlistig eingerichtet vom Leben – ist es tatsächlich gar nicht so offenichtlich, dass es uns gar nicht gefällt, was wir den lieben langen Tag so machen. Weil durch die Anpassung auch Akzeptanz entsteht. Weil es plötzlich ganz gut läuft. Es mag ab und an langweilig oder oberflächlich erscheinen, aber es gibt keine harten Kanten, die unsere Schienbeine anspringen. In solchen Fällen, kann es tatsächlich sein, dass man eines morgens aufwacht und feststellt. „Das ist nicht meins!“

Und genau da ist ein hervorragender Zeitpunkt, sein Leben seinem „ich“ wieder etwas anzunähern. Wer mein Buch bereits gelesen hat, kennt das Konstrukt des „imaginierten Ich“ bereits. Das ist sozusagen die Schablone, nach der wir uns selbst, unser Leben und alles um uns herum beurteilen. Eine Idealvorstellung. Die aber so gar nichts mit ihrem tatsächlichen „ich“ zu tun hat.
Kurz gesagt, sind es nicht immer nur äußerliche Zwänge, die es uns schwer machen „nah an uns dran zu sein“, sondern auch innere Hürden! Die Selbstvorstellung will uns manchmal glauben machen, dass Menschen „wie wir“ Dinge so oder so zu tun hätten. Ein ganz besonders abstruses Beispiel ist mir neulich untergekommen, als mir ein Kollege sagte „Typen wie ich haben Freundinnen, die das Zuhause schön machen und gelegentlich Tennis spielen gehen. Was anderes passt ja auch gar nicht.“ Und dann hat er sich in eine selbstständige, hochintelligente und außerordentlich hübsche junge Frau verliebt, die Tennis total blöd fand. Das ist ja nun unangenehm.
Der Konflikt zwischen „Menschen wie ich“ und „ich“ kann einen schon ganz schön nerven. Deshalb empfehle ich in den meisten Lebenslagen: Folgen Sie ihrem Gefühl. Was sich gut anfühlt ist meistens gut und was sich mies anfühlt normalerweise mies. Bei einigen psychischen Erkrankungen oder Depressionen ist das leider nicht so einfach. In diesen Fällen kann es so sein, dass ängstliche, traurige oder verzweifelte Gedanken das Gefühl soweit betäuben, dass man gar nichts mehr fühlt, oder meint, die Gedanken seien das Gefühl. Das nennen Ärzte das „Gefühl der Gefühllosigkeit“. In diesen Fällen kann es helfen, sich zu erinnern, was einem früher besonders viel Freude bereitet hat und natürlich sich Hilfe zu suchen, die einen auf dem Weg zurück ins „echte“ Leben begleitet.

Doch zurück zum „Selbstfinden“. Es gibt ein paar ganz gute Tricks, wie man wieder zu sich finden kann, ohne nach Thailand zu müssen oder sich den Hintern wund zu radeln. Ein wichtiger Punkt ist: Hören Sie auf Ihre Leidenschaften! Was begeistert Sie? Warum tun sie es dann nicht? Weils schädlich oder gesetzlich verboten ist? Dann sollten Sie es tatsächlich lassen. Oder weil es „nicht passt“, „nicht gut ankommt“ oder „gerade nicht der richtige Zeitpunkt ist“? Dann los. Machen.
Oscar Wilde, der übrigens heute vor 158 Jahren geboren wurde empfahl uns: „Versuchungen sollte man nachgeben, man weiß nie, ob sie wiederkommen“. Das gilt noch heute! Ein zweiter wichtiger Punkt, der mir häufig bei all denen die sich „auf die Suche nach sich selbst machen“ auffällt ist: Es wird zuviel nachgedacht. Das geht dann so: „Das riecht aber lecker. Da läuft mir das Wasser im Mund zusammen. Aber ob es bio/vegan/fettarm/fairgetradet genug ist? Habe ich nicht letzte Woche noch gelesen, dass Cola Krebs, Gummibärchen dick, Eis Pickel und Kaugummis stumpfe Zähne machen?“ Ja. Das haben Sie mit Sicherheit gelesen. Und wenn Sie 3 Ärzte und einen Ernährungsberater fragen, werden sie in den meisten Fällen 7 Meinungen hören. Wie bei so vielen Dingen, macht die Dosis das Gift!

Einer Leidenschaft nachgeben und sich etwas gönnen, löst aber durch Glückgefühle und Endorphinausschüttung zahlreiche positive Effekte von der Ankurbelung des Kreislaufs bis zur Stärkung des Immunsystems aus.
Mark Twain, der übrigens heute vor 177 Jahren geboren wurde, brachte es wie folgt auf den Punkt: „Die Erkenntnisse der Medizin kann man ganz leicht zusammenfassen: Wasser, mäßig genossen, ist unschädlich“. Es hilft, einem Impuls, etwas Feines zu machen, nachzugeben. Versuchen Sie es!
Mark Twain war es übrigens auch, dem der tausendfach zitierte Spruch „Gib jedem Tag die Chance, der beste Deines Lebens zu werden“ zugeschrieben wird. Und ja, Sie haben Recht: der Spruch ist ausgelutscht und alt. Aber: er ist absolut wahr. Und Wahrheiten kann man gar nicht oft genug wiederholen.
Ein dritter und letzter einfacher Rat – und das sind schon viele für mich, denn Sie wissen – ich hasse Antworten und liebe Fragen – ist: Scheitern Sie. Versuchen Sie, Dinge so zu tun, wie Sie sie tun würden, wenn Sie allein wären. Erlauben Sie sich, Fehler zu machen. Ich finde, mal gegen eine Wand zu rennen (im übertragenen Sinn) hat große Vorteile. Nie findet man so schnell zu sich selbst, wie in Situationen, die einem als Stillstand erscheinen und für die man sich selber verantwortlich fühlt – und sich dann selber verzeihen darf.
Winston Churchill – und sie werden es nicht glauben, auch er wurde heute, allerdings vor 138 Jahren geboren – sagte „Es ist ein großer Vorteil, die Fehler, aus denen man lernen kann, möglichst früh zu begehen.“ Und Churchill muss es wissen. Er, der übrigens auch gesagt hat „Die Kunst ist, einmal mehr aufzustehen, als man umgeworfen wird“, ist vermutlich weit öfter angefeindet worden, als manch anderer Politiker. Geschadet hat es ihm nicht, alles nach seinem eigenen Stil durchzuziehen. Er starb als (Literatur-)Nobelpreisträger, war Admiral, hatte einen Adelstitel verliehen bekommen, rauchte, trank und hielt sich strikt an seine Regel „No Sports“. Also Winston Churchill wäre mit Sicherheit nicht mit dem Fahrrad durch Thailand gefahren. Eher mit einem Cocktail in der Hand in einer Rikscha.

„Sich selbst finden“ funktioniert im Übrigen nur, wenn man bereit ist, etwas zu finden. Etwas, das eben gerade nicht so ist, wie alle anderen. Nicht Mainstream. Sondern ich. Mit hellen und dunklen Seiten und allen Schattierungen dazwischen. Und wenn ich es gefunden habe, muss ich mich wohl damit anfreunden. Oder?
Oder ist das auch wieder nur ein Schritt gewesen und die eigentliche Arbeit beginnt erst dann? Kennen Sie den Film „der Ja-Sager“ mit Jim Carey? Der „Held“ dieses Films überspringt die ganze „Suchen und Finden“-Story komplett. Er, der bisher immer versucht hat, alles von sich wegzuschieben, beginnt von heute auf Morgen einfach zu allem „ja!“ zu sagen. Er erlebt unglaubliche Dinge und stellt fest, dass es plötzlich auch beruflich bergauf geht. Und findet schließlich sein Traumfrau. Hollywood halt. Aber vielleicht ist in diesem Falle tatsächlich mal nicht der Weg das Ziel. Sondern das Ziel das Ziel. Leben Sie doch einfach so, wie es sich am besten anfühlt. Der Rest ergibt sich ganz von allein. Wetten?

Sollten Sie sich doch irgendwo anders suchen wollen, hier doch noch ein kleiner Hinweis: Mir passiert es immer wieder, dass ich vom Sofa aufstehe um meine Brille zu suchen: Im Bad, in der Küche, im Wohnzimmer…und sie dann exakt da liegen sehe, von wo ich aufgestanden bin, um sie zu finden. Eine kurze Verschnaufpause, ein konzentrierter Blick auf die tatsächliche Situation – und ich hätte mir den Gang durch die Wohnung sparen und die gewonnene Zeit lieber entspannt genießen können. Vielleicht kommt es auch bei der Suche nach „sich selbst“ ja gar nicht so sehr auf das „wo“, sondern auf das „wie“ an? In jedem Fall finden Sie die richtigen Antworten, die für JEDEN gelten, in keinem Buch.

Ein sauschönes Wochenende wünscht Dr. Phil (facebook.de/psholstein)

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Glücklich werden ohne Ratgeber – Ein Ratgeber

Unser Kolumnist Dr. Phil ist auch bekannt als Autor Philipp S. Holstein und hat das Buch “Glücklich werden ohne Ratgeber. Ein Ratgeber” geschrieben.

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